Zur Zukunft des Prospekts: Streuverlust oder effektive Kundenansprache?
Fachartikel — 28. Februar 2023Christian Rechmann
Geschäftsführung | Strategie
Es gibt diese Geste, mit der in Marketingkreisen über Werbebeilagen gesprochen wird: Ein Schütteln aus dem Handgelenk symbolisiert das ungelesene Wegwerfen der Prospekte. Dabei fällt meist der Begriff „Streuverluste“. Intuitiv erscheint uns das richtig, denn jeder von uns wirft den Großteil aller Beilagen und Postwurfsendung ungelesen in den Papiermüll. Interessant für die Frage nach der Wirkung ist aber der andere Teil – der Teil, der tatsächlich wahrgenommen wird. Und dazu ein paar Zahlen:
Laut dem Kölner Institut für Handelsforschung (IFH) lesen (oder vielmehr blättern) 90 Prozent der Deutschen gelegentlich gedruckte Prospekte, mehr als drei Viertel aller Befragten tun dies jede Woche. Und 75 Prozent der über 30-jährigen geben an, in letzter Zeit eine Prospektbeilage aufgehoben und mit ins Geschäft genommen zu haben.
Trotz dieser Zahlen ist im Handel ein Glaubensstreit darüber ausgebrochen, ob der Prospekt eine Zukunft hat. Ausgelöst durch REWE und Obi, die beide angekündigt haben, 2023 auf die gedruckte Prospektwerbung zu verzichten und diese durch eigene Apps, Online-Maßnahmen oder WhatsApp Kommunikation zu ersetzen.
Effektiv oder effizient?
Die vier Kommunikationskanäle im Handel – Digital, Print, CRM und klassische Medien – unterscheiden sich neben ihrer Darreichungsform vor allen in Effektivität und Effizienz.
Auch online gilt: Je reichweitenstärker eine Kampagne ist, desto weniger effizient wird der einzelne Kontakt. Es steigen die Streuverluste.
Effektivität, also die Fähigkeit eine große Reichweite zu erzielen, erreichen vor allem die Kanäle TV, Hörfunk und der gedruckte Prospekt, verteilt „an alle Haushalte“. Effizienz erfüllen Kanäle, die einen Kontakt möglichst kostengünstig erreichen, wie zum Beispiel Newsletter und die eigenen sozialen Kanäle. Online-Marketing liegt je nach Ansatz irgendwo dazwischen. So kann Online sehr genau aussteuern, ob ein Interesse am Produkt wahrscheinlich ist, ebenso kann es sehr große Reichweiten erziehen.
Der richtige Mix.
Um Effizienz und Effektivität einer Kampagne zu optimieren, sollten die Vorteile aller vier Kanäle in eine ausgewogene Mix-Strategie einfließen.
Viele Marketer ersetzen derzeit die großen Streumedien durch personalisierte Kommunikation; der digitale Anteil im Kommunikationsmix gewinnt; mit 34% dominiert Digital im Q4/22 erstmals den Marketingmix des deutschen Handels (EHI Marketingmonitor, 12/22). Die digitalen Kanäle bieten eine höhere Flexibilität und – noch wichtiger – sie können neue Zielgruppen erreichen, sei es jüngere oder städtischere Personen, die Prospekte tatsächlich nur noch als lästige Stapel im Treppenhaus wahrnehmen.
Andere Zielgruppen, wie zum Beispiel ältere Personen oder Familien im ländlichen Raum sind ohne Print und Klassik nach wie vor schlecht zu erreichen. Dem digitalen Bereich fehlt die regionale Reichweite, um lokal genug Werbedruck aufbauen zu können. Die über WhatsApp verbreiteten Beilagen von REWE, Kaufland und Co. erreichen derzeit nur wenige tausend Nutzer, wohingegen die Prospektsammlung „Einkauf Aktuell“ gedruckt in bis zu 20 Millionen Haushalte geliefert wird.
Es scheint daher unklug, einen bewährten Kanal wie den Prospekt zur Frequenzgewinnung am POS einfach zu ignorieren. Man ersetzt Effektivität durch Effizienz und hat am Ende zwar weniger Geld ausgegeben, aber eben auch deutlich weniger Kunden erreicht. Das belegt die best4trends-Studie 2022: die regelmäßige Printbeilage mit ihrer „rituellen Funktion“ kann die Kaufbereitschaft im Handel um bis zu 10 Prozent steigern, im Vergleich zu Kampagnen, die auf Print verzichten.
Man könnte dies als Vergangenheitsmessung beschreiben und darauf verweisen, dass sich die Kunden erst mal an die neuen Kanäle wie WhatsApp-Werbung gewöhnen müssten. Aber wer von den zu Anfang erwähnten „Handgelenksschüttlern“ glaubt ernsthaft, dass Print-Werbeverweigerer sich zukünftig in großer Zahl für digitale Beilagen interessieren?
Marketing wird für die Kund:innen gemacht.
Das Marketing-Leistungsversprechen richtet sich an den Bedürfnissen und Wünschen der Kundschaft aus. Und solange Kund:innen gedruckte Prospekte lesen möchten, wird es schlaue Händler geben, die diese Kunden glücklich machen und sich so einen Vorteil gegenüber dem Wettbewerb sichern, der auf die vermeintlich fortschrittlichere Kampagne setzt.
Es geht um ein Miteinander der Kanäle. Auch REWE und Obi kündigen nicht nur mehr Print-Anzeigen und Hörfunkspots an, auf Druck der 1500 selbstständigen REWE-Kaufleute hat sich der Konzern auch die Hintertüre offengelassen, lokal weiter Beilagen zu drucken und zu verbreiten. Die Händler befürchteten, dass Frequenz und Umsatz ohne Print-Prospekte sinken werden, wie die Lebensmittelzeitung im Oktober berichtete.
Vielleicht haben die REWE-Kaufleute auch einfach die Zahlen von Edeka Hessenring studiert. Hier hatte man, zu Beginn der Corona-Pandemie 2020 einige Wochen auf Beilagen verzichtet. Die Folge war ein spürbarer Umsatzeinbruch für die Hessenring Edekas, im Vergleich zu den anderen Märkten.
Und auch bei Obi darf man gespannt sein, wie lange die lokalen Häuser zusehen, wenn Umsatz in Richtung der weiterhin werbenden Wettbewerber abwandert.
Für den Handel kann es 2023 nicht um ein Entweder-Oder gehen, sondern um die Entwicklung der richtigen Hybridstrategie im Rahmen der jeweiligen Gegebenheiten. Im Handel wird Erfolg an der Kasse gemessen und den größten Erfolg verspricht ein Mix aus Effizienz und Effektivität auf allen vier Kommunikationskanälen. Das bedingt eine vorurteilsfreie Betrachtung und ein differenziertes Beobachten der einzelnen Maßnahmen und lässt sich leider nicht einfach so „aus dem Handgelenk“ schütteln.